5. Juni, Vormittag, Cupertino. „One more thing“, moderiert Tim Cock, Chef des wertvollsten Unternehmens der Welt, die nun folgende Bekanntgabe an. Er nutzt die Worte, mit dem schon Kult-Produkte wie das erste iPhone eingeführt wurden, und bindet sich damit sogleich an ein schweres Versprechen. Genau das Pathos, auf das die brav-konditionierten Zuschauer sabbernd warten. In den nächsten Minuten wird die Apple Vision Pro präsentiert, die erste XR-Brille des US-Tech-Giganten. Oder wie Apple es selbst versteht: Der erste räumliche Computer des Unternehmens. Ich frage mich, welche Implikationen sich durch den Gewinn dieser Sphären durch Computer für uns ergeben. Bleibt so nicht weniger Raum für uns beziehungsweise das, was uns menschlich macht? Realitätsverlust vorprogrammiert?
Zuerst einmal: Technisch finde ich die Brille ziemlich geil. Womit dieses Headset lockt, ist nicht weniger als ein Upgrade unseres Lebens in wesentlichen Bereichen. Das Versprechen: eine erweiterte Realität. Und wer nun danach fragt, was denn bitte realer als das die Realität sein soll, dem sei geraten, einfach mal darüber nachzudenken, ob er sich etwa nicht, statt sich immer an den Rechner zu setzten, den Rechner auf den Kopf setzen möchte. Wohin sich diese Technik entwickeln kann, ist schwer zu sagen bzw. schwer von archaischen Science-Fiction-Fantasien zu lösen. Recht klar hingegen ist, als was sie aufschlägt: Als Business-Spielzeug. Denn vor allem kann sie doch eines: Spaßmachen. Nicht nur im Sinne einer Achterbahnfahrt, sondern auch durch das Erleben neuer digitaler Möglichkeiten, die ein großes Mehr an Produktivität entfalten können. Denn MR (Mixed-Reality) oder XR (Extended Reality) ist kein weiterer technokratischer Schritt in Richtung Schnick-Schnack-Tomorrow – nein. Die Idee dieser Technologie ist Zukunft zum Mitmachen. Unser neuer Arbeitsplatz heißt Spatial Computing. Und wenn die Apple Vision Pro so gut horcht, wie in den Produkt-Videos dargestellt, hat Apple uns gerade echt ein dickes Stöckchen Zukunft hingeworfen.
Als hätte die Konkurrenz auf Apple gewartet
Gehen wir also, spaßeshalber, mal davon aus, Apple hat uns nicht zu viel versprochen: fuck. Die vielen Vorteile der Brille möchten wir nicht vergessen, sondern nur gerade nicht betrachten, da wir sie sowieso für selbstverständlich erachten bei einem Kaufpreis von 3500 USD. Die Brille ist also geil, ok – aber was noch? Zum Beispiel traurig. Denn dank ihr lohnt es sich zunehmend, zuhause zu bleiben. Statt ins Büro oder zu Geschäftsterminen aufzubrechen. Statt sich mit Freunden oder der Familie zu treffen. Statt analoge Abenteuer zu erleben. Denn gefühlt ist es das erste Mal, dass die Simulation bzw. Erweiterung der Realität für die breite (privilegierte) Masse überzeugend und vielversprechend glückt. Vor fast 10 Jahren gab es den ersten VR-Hype; wir erinnern uns vor allem an Oculus, ein Meta-Unternehmen, das es zwar noch heute gibt, dem es aber auch gelungen ist, das öffentliche (einst hohe) Interesse an dieser Technologie mehr oder weniger versanden zu lassen. Auch von Microsoft, Playstation (Sony) und anderen Anbietern gibt es hier einige Anläufe, die zwar auch Fans gewinnen konnten, jedoch vor allem wieder den so typischen Eindruck erzeugten, sie hätten nur auf Apple als neuen Platzhirschen gewartet. Die sich bis vor kurzem in der Entwicklung befindliche Google Iris wurde sogar abgesagt – eine besinnungslose Kapitulation vor Apples Ingenieuren.
Ein Blick durch die dunkle Brille
Wir erleben also gerade erst die Stunde Null der erweiterten Realität. Von nun an wird es immer besser. Praktischer. Gewaltiger. Unheimlicher. Trauriger. Besonders creepy zum Beispiel ist schon heute, dass die Apple Vision Pro die Augen ihres Nutzers mit einem dafür verbauten Display imitiert. Damit ich zu Fasching als ich selbst gehen kann? Naja. Man wird sich an die guten alten Zeiten erinnern, als man sich noch darüber entrüsteten konnte, wenn das Gegenüber einmal zu oft das Smartphone in die Hand nahm. Jaja, das waren noch Zeiten, als man das Haus verließ. Aber – wer weiß? Apple hat, augenscheinlich zumindest, andere Pläne mit uns. Die Brille soll uns nämlich gar nicht in der Immersion versinken lassen. Sie soll uns überall in unserem Alltag begleiten – unterstützen. Aber ganz ehrlich: Ich sehe mich nicht mit so einem Teil auf der Nase, so cool ich es auch finde, Brötchen holen. Ich, die Zeit oder die Technik – eine der Komponenten ist dazu noch nicht bereit. Ich weiß nicht, welche.
Die Brille lässt uns einen Blick in die Zukunft werfen. In eine dystopische? Das hängt nun von uns ab. Die Technik ist cool. Zeigen wird sich, ob wir cool genug sind, um mit ihr umzugehen. So, dass die erweiterte Realität nicht unseren wirklichen Horizont einschränkt. Ich weiß nur: Ich will die Apple Vision Pro haben. Und träume von erweiterter Werbeflächenvermarktung.